Sedimente künstlerischen Schaffens


Die Druckgrafik ist eine eigentümliche Kunstgattung. Ursprünglich als Möglichkeit zur Reproduktion entwickelt, mit der Literatur und Bild rapide verbreitet werden konnten, haben sich Künstler von Beginn an leidenschaftlich mit ihren spezifischen Techniken auseinandergesetzt und sie als Ausdrucksträger sehr persönlicher bildnerischer Aussagen genutzt. Die künstlerische Bearbeitung von Holz, Metall, später Stein und Textil bedeutete dabei immer „nur“ die Vorstufe zur eigentlichen Bilderzeugung, d.h. zur Einfärbung und zum Druck auf das Papier. Diese Mittelbarkeit, bestehend aus vielerlei oftmals komplizierter und körperlich bisweilen ausgesprochen anstrengender Tätigkeiten und Produktionsschritte, gehört nach wie vor zu den großen Reizen und der Faszination von Druckgrafik. Mühseliges Schneiden in splitterndes Holz und beschwerliches Kratzen in hartes Metall dienen in dieser Kunstform ausschließlich dazu, unterschiedlichste Bilder auf empfindlichem Papier herzustellen, die ein genaues Hinschauen einfordern, einen sensiblen, aufmerksamen Blick.

Viele Maler haben sich neben ihrer Arbeit an Gemälden auch mit Druckgrafik befasst und dort einige ihrer eindrücklichsten Werke geschaffen. Seit dem 15. Jahrhundert ist diese Tradition berühmter „peintres-graveurs“ - „Malerradierer“ - allen Prognosen zum Trotz nicht abgebrochen. Selbst Fotografie und digitale Medien haben die Ausübung „handgemachter“ Druckgrafik nicht unterdrücken können. Zu den zeitgenössischen Künstlern, die neben ihrer Malerei der Radierung einen mindestens ebenbürtigen Rang einräumen, gehört Ulrich J. Wolff. Seit 1984 unterrichtet er Radierung und Siebdruck an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, wo er selbst als Meisterschüler sein Studium beendete. Technisch ist Wolff ein Experte seines Fachs, der alle Finessen des Tiefdrucks virtuos beherrscht.

Wenn er dabei seine oft mehrteiligen, großformatigen Radierungen als „Malerei auf Zink“ begreift, dann nicht als Distanzierung von ihrer druckgrafischen Gattung, sondern als Hervorhebung ihrer Ebenbürtigkeit mit seinen gemalten Werken. Die meisten seiner radierten Blätter existieren daher lediglich als Unikate. Eine enge Verwandtschaft von Grafik und Malerei im Werk von Ulrich Wolff erschließt sich auf den ersten Blick, denn aufgrund seiner technischen Virtuosität ist gar nicht immer auf den ersten Blick erkennbar, welche Arbeiten auf Papier gedruckt und welche auf Leinwand gemalt wurden. Teilweise verwendet der Künstler annähernd gleiche Herstellungsverfahren. So ist ein Charakteristikum seiner abstrakten Gemälde – neben diversen Collagetechniken, die der Künstler auch in seinen Drucken einsetzt – die Anwendung unterschiedlicher Strukturmaterialien. Sand und Steine der unmittelbar erfahrenen Landschaft – ob aus entlegenen Gebieten Afghanistans und Nordpakistans, die Wolff bereiste, oder vom badischen Baggersee um die Ecke – werden mit einem Acrylgemisch als plastische Masse auf den Bildträger gespachtelt, um anschließend mit unterschiedlichen Farben überarbeitet zu werden. In der Radierung erreicht Wolff diese Wirkung mit Carborundum, das auf die Druckplatte aufgetragen wird und einen ausdrucksstarken Prägedruck im Papier hinterlässt. Beide Verfahren fügen dem flachen Bild die dritte Dimension hinzu, machen aus einem Gemälde oder einer Grafik ein Relief. In dieser plastischen Modellierung und Einbindung irdener Materialien erinnern einige Werke an Arbeiten von Jean Dubuffet (1901-1985): Dessen Auseinandersetzung mit dem kreativen Schöpfungsprozess resultierte u. a. in der Einbeziehung von Erde und Sand in seine Malerei – begriffen als eine formlose Urmasse, welche die Kreativität des Künstlers leitet. Auch scheint die Nähe zu informellen, auf surrealistische Ideen zurückgreifende Arbeiten von Antoni Tàpies (geb. 1933) auf, der ebenfalls mineralisches Material in seine Gemälde einarbeitete und seine Grafiken durch farbige Prägedrucke als dreidimensionale Objekte schuf. In jener kunsthistorischen Tradition, in der das Werk Ulrich Wolffs steht, erzeugen das Aufwerfen einer amorphen Masse, ihre Stauchungen, Risse und schrundigen Oberflächen vielfältige Assoziationen: Urzustand, Vergänglichkeit und neue Formbarkeit, Erinnerung und Neugestaltung verdichten sich in traumhaften Visionen und lassen den Schöpfungsakt selbst aufscheinen.

Mit dem Einsatz von plastischer, organisch anmutender Masse geht der gestische Ansatz im Duktus von Wolff einher: Kräftige und zarte Linien, scharfkantige Kratzer und federweiche Spuren, organische und unregelmäßige Formen offenbaren die intuitive Arbeit des Künstlers. Diesen lebhaften, oft leidenschaftlichen Zugang zu seinem Schaffen konterkariert Wolff jedoch mit kalkulierten und austarierten Kompositionen, oftmals geprägt von archaisch anmutenden Chiffren und Symbolen oder einem linearen, architektonisch konnotierten Gerüst. Kalkül und Intuition sind deutlich wahrnehmbar. In Wolffs reduzierten, zu hellen Farben tendierenden Arbeiten mit geometrisch angelegten Graphismen scheint eine Verwandtschaft mit Werken Fritz Klemms (1902-1990) anzuklingen, der von 1953 bis 1970 seine Professur an der Karlsruher Akademie hatte und mit minimalistischem Ansatz und pastosen Malmaterialien ein Stadium zwischen Abbildern einer realen Umwelt und nicht abbildbaren Geisteszuständen entwarf. Wolffs Anlehnungen an architektonische Motive sind deutlich: „Wand“, „Treppe“, „Glashaus“, ein gotisches Kreuzrippengewölbe oder der Eingang seines Elternhauses – Bilder von Orten, die durch eine eigentümliche Verbindung von Flächen und Linien eine Räumlichkeit suggerieren, die unbetretbar, unerreichbar bleibt. Aus realen Anschauungen entstehen räumliche Imaginationen, welche die individuelle Vorstellungskraft des Betrachters ansprechen: Visionen, Erinnerungen und Eindrücke werden geweckt, innere Bilder, die sich wie Schimären beim Auftauchen bereits verflüchten.

Wie um die Flüchtigkeit dieser Erscheinungen zu unterstreichen, nutzt der Künstler seit kurzem auch Transparentpapier für seine Radierungen, durchsichtige Bildträger, welche die Präsenz seiner Darstellungen zusätzlich in Frage zu stellen scheinen. In sogenannten „Doppelblattradierungen“ legt Wolff einen Druck auf Transparentpapier über eine Radierung auf schwerem Bütten und schafft damit eine neue Variante seiner künstlerischen Schichtungen. Das untere, durchscheinende Bild und das oben liegende, durchlässige Blatt verschmelzen zu einer Darstellung, deren Tiefenräumlichkeit endgültig im Unklaren bleibt: Der Bildraum entwickelt seine eigenen Gesetze - physikalische Bedingungen von Raum und Zeit sind außer Kraft gesetzt. Eine ähnliche Wirkung erreicht Wolff bei den Farbradierungen, in denen eine silbergrau eingefärbte Platte auf einen schwarzen Druck gelegt wird und sich wie ein Nebel über die dunkle Darstellung legt.

Diese unterschiedlichen Schichtungen sind ein bestimmender Faktor der Kunst Ulrich Wolffs. Indem er als Maler und als Grafiker in zahlreichen aufeinander folgenden Arbeitsprozessen eine Bild-Lage über die andere legt, seine Werke mit immer wieder neuen Überzügen, Häuten und Krusten anwachsen lässt, erzeugt er Sedimente seines eigenen Schaffens, in denen sich die zeitliche Abfolge der künstlerischen Tätigkeit zu Werken von haptisch-sinnlicher Qualität verdichtet. Das gegenwärtige Bild, sein finaler Zustand, erzeugt durch das Hervorscheinen der vorangegangenen Phasen ein Bewusstsein von Zeit, mit all ihren Konnotationen von Vergänglichkeit und Ewigkeit, Vorgang und Dauer.

Dr. Dorit Schäfer

 

 
Der Text stammt aus dem Katalog: Unikatradierungen und Bildojekte >>
Zwilling,  Radierung/Collage  212 cm x 152 cm, Unikat
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